vom 10.05.2022
Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt appelliert vor allem an ältere Menschen, sich mehr zu bewegen: „Ich möchte den Menschen zurufen: ‚Ihr seid weitestgehend selbst verantwortlich für eure Gesundheit.‘“ Der 79-Jährige gibt Tipps für den Alltag und räumt mit der Mär der 10.000 Schritte auf.
Ein Mittwochabend in der Praxis des renommiertesten Sportarztes Deutschlands nahe dem Münchner Marienplatz. Seine Mitarbeiterin bietet Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt Kuchen an, er lehnt dankend ab. Im August wird der langjährige Teamarzt des FC Bayern und der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 80 Jahre, Süßes isst er selten. Wie jeden Tag ist er der Letzte in der Praxis. Zum Gespräch bittet er in eine Sesselgruppe in seinem Büro, in einem Regal stehen Laufschuhe von Superstar Usain Bolt, der ihn als „besten Arzt der Welt“ bezeichnete.
WELT AM SONNTAG: Herr Dr. Müller-Wohlfahrt, was wir hier tun, sieht mancher als lebensgefährlich an.
Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt: Weil wir sitzen, ja. In meinem neuen Buch „Bewegung“ zitiere ich den Briten James Levine von der Mayo-Klinik in Arizona. Er bezeichnet Sitzen und Stühle als lebensgefährlich und sagt, Sitzen sei gefährlicher als Rauchen. Aus Erfahrung mit meinen Patienten kann ich bestätigen, dass es in Verbindung mit Bewegungsmangel fatale Folgen haben kann. Man nennt es Sitting Disease, die Krankheit des Sitzens – eine der größten Bedrohungen der Weltgesundheit.
WELT AM SONNTAG: Sitzen Sie viel?
Müller-Wohlfahrt: So wenig wie möglich. Ich arbeite überwiegend im Stehen. Zur Praxis komme ich immer zu Fuß.
WELT AM SONNTAG: Ihr neues Buch ist ein Appell für mehr Bewegung. Ist das in einer Zeit voller Fitness-Apps und eines großen Angebots an Sportarten notwendig?
Müller-Wohlfahrt: Leider ja! Der Sport hat in unserer Gesellschaft einen zu geringen Stellenwert. Fast die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland bewegt sich zu wenig. Das steht in starkem Kontrast zur florierenden Fitnessindustrie. Ich sage: „Leute, wacht auf, bewegt euch mehr, bleibt im Alter aktiv!“ Meinen Patienten sage ich oft: „Seid doch clever. Mit Bewegung werdet ihr älter und gesünder.“ Bewegung bringt Wohlbefinden und Elastizität in Kopf und Körper. Deswegen dieser Appell. Ich will aufrütteln. Es geht mir vor allem um zwei Gruppen, die sich zu wenig bewegen: die Kinder und die Älteren. Ich habe mich intensiv mit Studien beschäftigt, viele Ergebnisse sind erschreckend.
WELT AM SONNTAG: Welche zum Beispiel?
Müller-Wohlfahrt: Die Deutschen sitzen im Schnitt 7,5 Stunden pro Tag, die jungen sogar neun Stunden. Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen Wirbelsäulenprobleme haben. Das muss mit dem Bewegungsverhalten zu tun haben. Ich möchte den Menschen zurufen: „Ihr seid weitestgehend selbst verantwortlich für eure Gesundheit.“ Lediglich 20 Prozent der Gesundheit machen unsere Gene aus, sie ist also formbarer als oft gedacht.
WELT AM SONNTAG: Was raten Sie Menschen, die im beruflichen Alltag viel sitzen müssen?
Müller-Wohlfahrt: Sie müssen sich zwingen, oft Pausen zu machen und aufzustehen. Treppen zu steigen, zu gehen – Hauptsache, kurz bewegen, am besten an der frischen Luft. Das fördert auch die geistige Frische. Fünf Minuten reichen.
WELT AM SONNTAG: Welche aus Bewegungsmangel resultierenden Beschwerden behandeln Sie am häufigsten?
Müller-Wohlfahrt: Muskel-, Sehnen-, Gelenkprobleme – in erster Linie aber Wirbelsäulenbeschwerden. Alle Organe brauchen die Bewegung des Körpers. Das Herz muss nicht immer nur geschont werden, auch nicht im Alter. Es benötigt ebenfalls Training. Das Schlimmste an Bewegungsmangel ist aber, dass das Bindegewebe sehr leidet.
WELT AM SONNTAG: Welche Folgen kann das haben?
Müller-Wohlfahrt: Das Bindegewebe ist nicht nur Stützgewebe, sondern auch ein Transportmedium. Es transportiert Nährstoffe, Sauerstoff und Energie in unsere Zellen. Bei zu wenig Bewegung verdichtet und verschlackt das Bindegewebe und kann diesen Transport nicht ungehindert mehr leisten. Fatal! Die Zellen altern. Wer im Alter träge und bequem wird, bei dem potenziert sich diese Entwicklung. Man altert dann schneller. Je älter man wird, desto mehr Bewegung braucht man.
WELT AM SONNTAG: Was sehen Sie als Grund dafür, dass sich ältere Menschen zu wenig bewegen?
Müller-Wohlfahrt: Ältere Menschen neigen dazu, passiv und bequem zu werden. Das erlebe ich jeden Tag in der Praxis. Die fehlende Bewegung ist auch ein Grund dafür, dass die durch Stürze entstandenen Verletzungen zunehmen. Die Älteren haben nicht mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, wenn sie stolpern. Sie müssen ihre Muskeln leistungsfähig halten. Das geht nur mit Training.
WELT AM SONNTAG: Was raten Sie?
Müller-Wohlfahrt: Spazierengehen ist ein guter Anfang. Da möchte ich übrigens mal mit der Mär der 10.000 Schritte aufräumen.
WELT AM SONNTAG: Diese gelten gemeinhin als tägliches Ziel, um sich genug zu bewegen.
Müller-Wohlfahrt: Tatsächlich ist das Optimum bei 7500 Schritten erreicht. 4000 sind auch schon wertvoll. Niemand muss sich unter Druck setzen, um auf 10.000 zu kommen. Viel wichtiger ist die regelmäßige Bewegung. Nicht nur nach Lust und Laune, Disziplin muss sein. Als Richtwert empfehle ich 45 bis 60 Minuten pro Tag.
WELT AM SONNTAG: Wie oft treiben Sie Sport?
Müller-Wohlfahrt: Zweimal pro Woche muss ich joggen, dreimal will ich. Da kann es auch regnen oder schon Mitternacht sein. Was mir hilft: Ich setze mich nach der Arbeit zu Hause gar nicht erst hin, sondern springe sofort in die Laufkleidung und laufe los, am liebsten im Englischen Garten. Dort hatte ich kürzlich ein besonderes Erlebnis. An einem Sonntag ging ich dort mit meiner Frau Karin spazieren. Sehr viele Menschen spielten Volleyball, Badminton, Fußball, warfen Bumerang, andere balancierten auf Slacklines, wiederum andere surften auf dem Eisbach – das hat mich begeistert. Aber es waren nur junge Menschen, die meisten unter 40. Ich fragte meine Frau: „Wo sind nur die in unserem Alter?“
WELT AM SONNTAG: Welche Sportarten eignen sich für ältere Menschen?
Müller-Wohlfahrt: Zum Beispiel Schwimmen, Radfahren und Walken, hier werden die Gelenke geschont. Aber egal, was Sie machen: Die Bewegung muss zur Gewohnheit werden.
LT AM SONNTAG: Sie schreiben in Ihrem Buch auch: „Sport macht schlau.“
Müller-Wohlfahrt: Sport wirkt sich positiv auf die Aufnahmefähigkeit, Konzentration und Ausdauer von Kindern aus. Aber leider sind unsere Schulen in Deutschland keine Orte der Bewegung mehr. Es fehlt an Turnhallen, Sportplätzen und spielerischen Konzepten. Ich habe den Eindruck, der Schulsport wird vernachlässigt. Dabei sollte er Spaß an Bewegung vermitteln und begeistern, Talente wecken. Ein Anspruch sollte sein, dass jedes Kind Schwimmen lernt. Leider gibt es in Deutschland oft gerade mal zwei Sportstunden pro Woche in der Schule. Das ist zu wenig. Ich höre immer wieder von Lehrern, dass Stunden ersatzlos ausfallen und es einen Mangel an Sportlehrern gibt. Eine Schande! Man muss empört sein. In England, Frankreich und den USA wird Schulsport in vorbildlicher Weise auf erstklassigen Anlagen betrieben.
WELT AM SONNTAG: Was fordern Sie?
Müller-Wohlfahrt: Die Politiker müssen helfen und in diesem Bereich mehr Verantwortung übernehmen. Damit wir uns den genannten Ländern angleichen. Der Sport muss in der Gesellschaft wieder an Bedeutung gewinnen. Auch die Eltern sind gefordert. Viele sind mir zu vorsichtig. Sie lassen ihre Kinder nicht oder erst spät allein in die Natur oder den Straßenverkehr, weil ja etwas passieren könnte. Dabei müssen die Kleinen unbedingt Fahrradfahren lernen und toben. Viele Kinder werden immer mit dem Auto zur Schule gefahren und können keinen Purzelbaum mehr schlagen, haben Koordinationsmängel.
WELT AM SONNTAG: Kinder und Jugendliche spielen teilweise stundenlang am Smartphone. Welche gesundheitlichen Folgen kann das haben?
Müller-Wohlfahrt: Ein Problem ist der sogenannte Handy-Daumen. Kinder und Jugendliche kommen zu mir, weil sie vom ständigen Wischen über das Display Schmerzen in den Daumengelenken haben. Es ist von der Natur nicht so gedacht, dass wir den Daumen dermaßen belasten. Und in solch einem Tempo. Es entsteht ein Druck im Daumensattelgelenk, der zu einer Überreizung des Kapselbandapparates und Entzündungen führen kann. Im schlimmsten Fall entwickelt sich daraus als Spätfolge eine Daumenarthrose. Das zweite Problem ist der sogenannte Handy-Nacken: Ein geneigter Kopf belastet die Halswirbelsäule sehr. Die Bandscheiben, Gelenken und Wirbelkörper nehmen Schaden.
WELT AM SONNTAG: Erleben Sie diese beinahe exzessive Smartphone-Nutzung auch bei Leistungssportlern?
Müller-Wohlfahrt: Kürzlich hatte ich einen Weltklassesportler bei mir. Seine Freundin berichtete mir, dass er zwischen den Trainingseinheiten vier Stunden am Handy hängt.
WELT AM SONNTAG: Was hilft, um einen Handy-Daumen und einen Handy-Nacken zu vermeiden?
Müller-Wohlfahrt: Eine Nutzung in Maßen und eine vernünftige Sitzhaltung. Zudem sollte man beim Tippen beide Daumen nutzen. Und Übungen. Ich mache jeden Morgen unter der heißen Dusche Dehnübungen, damit die Nackenmuskulatur locker bleibt.
WELT AM SONNTAG: Neben der Bewegung gilt die Ernährung als wichtigster Baustein für Gesundheit. Was sind Ihre Tipps in diesem Bereich?
Müller-Wohlfahrt: Saisonale Lebensmittel aus der Region verwenden. Außerdem am besten wenig Weißmehlprodukte konsumieren. Baguette oder Croissants gibt es bei uns am Sonntag, unter der Woche habe ich das sehr zurückgefahren. Ich bin mit Vollkornbrot aufgewachsen, das ist gesünder und schmeckt mir. Und Abwechslung ist wichtig: Die italienischen Sportler haben bessere Laborwerte als andere. Grund ist wohl ihre ausgewogenere, mediterrane Ernährung. Das Olivenöl gleicht die gesättigten Fettsäuren aus. Ich würde nur nicht so spät wie sie zu Abend essen. 19 Uhr halte ich für die ideale Zeit. Für ältere Menschen, die weit weniger Nahrung und damit weniger Nährstoffe zu sich nehmen, habe ich Nahrungsergänzungsmittel entwickelt.
WELT AM SONNTAG: Sie schreiben, dass Ihnen das Ausmaß Ihrer Arbeit und Verpflichtungen in den vergangenen Jahrzehnten erst mit zeitlichem und innerem Abstand klar wurde. Haben Sie mit Ihrem enormen Pensum auch mal Ihrer Gesundheit geschadet? Würden Sie heute etwas anders machen?
Müller-Wohlfahrt: Ich habe auf vieles verzichtet. Aber ich hatte nie den Eindruck, dass meine Arbeit mich stresst. Früher fing ich manchmal um sieben Uhr morgens in der Praxis an. Abends war es mein Ziel, die Nachrichten um 23 Uhr im Auto auf dem Heimweg im Radio hören zu können. Für mich war das kein Opfer, es war Leidenschaft. Ich habe das durch die Energie meiner Patienten zurückbekommen. Heute sage ich: Meiner Familie habe ich zu viel zugemutet, ich war zu viel unterwegs. Das Wochenende fing oft Sonntagmittag an. Das würde ich heute so nicht mehr machen.