Deutschland ist eines der Länder, in denen bildgebende Verfahren einen sehr hohen Stellenwert bei der Diagnostik haben. Und aufgrund dieser Bilder haben wir hier auch mit die höchste Operationsrate von Wirbelsäulen und Hüftgelenken.
Gerade mal bei 10% der Rückenschmerzpatienten lassen sich Gewebeschäden auf Röntgenbildern nachweisen. Der Rest leidet unter „unspezifischen Rückenschmerzen“. Und selbst wenn ein Schaden auf einem Bild sichtbar ist, bedeutet das noch nicht, dass dieser Schaden auch die Ursache der Schmerzen darstellt. Es kann durchaus sein, aber es kann auch eine falsche Kausalität hergestellt werden und der sichtbare Schaden wird fälschlicherweise als Verursacher eingestuft, aufgrund dessen eine unnötige OP durchgeführt wird. Ein Grund kann der Anreiz höherer Verdienste sein. Eine Wirbelsäulenversteifung wird mit ca. 12000 Euro in Rechnung gestellt, mit einer konservativen Therapie erhält ein Arzt oder Therapeut einen Bruchteil dieser Summe.
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Die Anzahl der Operationen ist seitdem weiter gestiegen. Aber es gibt natürlich auch medizinisch notwendige und unumkehrbare Gründe für eine Operation, die jedoch im einstelligen bis niedrigen zweistelligen Prozentbereich liegen.
Was können Schmerzpatienten also in ihrer Notlage tun?
Zunächst ist es hilfreich, wenn Schmerzpatienten ein offenes Ohr für ihre Beschwerden finden. Ärzte oder Therapeuten können aufgrund einer empathischen Beziehung deutlich mehr Einfluss und Hilfestellung geben als ein 5minütiges Vorstellungsgespräch mit anschließender Rezeptur eines Schmerzpräparates.
Wieso der gängige Weg der Schmerztherapie kritisch zu hinterfragen ist
Deutschland gehört zu den Ländern mit den höchsten Operationszahlen der Wirbelsäule und Knie- und Hüftgelenke. Warum ist das so und was ging der Entscheidung zur Operation voraus? In der Regel ist der Weg eines Menschen mit Schmerzen der folgende:
Besuch beim Arzt/Orthopäden. Dort Schilderung der Beschwerden, keine körperliche Untersuchung, reines Gespräch und Überweisung zum Röntgen / CT und Verordnung von Schmerzmitteln. Nach dem MRT/CT erneutes Gespräch und Stellung einer Diagnose, die von Worten begleitet wird, die „Kopfkino“ und eine Reihe von Gefühlen und Bewältigungsstrategien beim Patient entstehen lassen: Sie haben Arthrose. Sie haben einen Bandscheibenvorfall, der operiert werden muss. Früher oder später sehen wir uns zur OP wieder. Der Patient verlässt die Praxis. Was nimmt er mit? Angst, Starre, Unsicherheit, Zweifel, die richtige Entscheidung zu treffen, Bewegungsvermeidung, Hoffnung in Schmerzmittel und Akzeptanz der üblichen Nebenwirkungen.
Dabei ist heute über Schmerzen bekannt:
Schmerzen deuten auf eine Überlastung verschiedenster Strukturen hin, die temporär sein können und es meistens auch sind. Die Grundlage eine MRT/CT- Bildes für eine Diagnose und Erklärung der Schmerzen ist mit Vorsicht zu genießen, da sehr oft der kausale Zusammenhang zwischen Bild und Symptomen gar nicht beweisbar ist. Konnte Ihnen schon einmal das Alter des Schadens auf dem Bild genannt werden?
Es gibt Menschen, die schmerzfrei leben und auf ihrem MRT-Bild einen Schaden vorfinden können.
Ebenso gibt es Menschen mit Schmerzen, deren MRT-Bild keinerlei Schädigung erkennen lässt.
Mehr und mehr Studien stellen fest, dass mehr Bildgebung und mehr klinische Intervention zu einem längeren Heilungsverlauf mit höheren Kosten im Gesundheitssystem führt, also deutlich im Nachteil liegt im Vergleich zu einer konservativen, individuell angepassten Bewegungstherapie als Bewältigungsstrategie der Schmerzperiode.
Vor einem operativen Eingriff und dauerhafter Schmerzmitteleinnahme sollte ein erlerntes Schmerzmanagement die erste Therapie der Wahl sein, die dem Patienten/in aufzeigt, dass er/sie selbst seine/ihre Schmerzen beeinflussen und seinen/ihren Lebenswandel selbst gestalten kann. Somit wird ihm eine klinische und medikamentöse Abhängigkeit erspart. Der Mensch kann seine Ängste aus eigener Kraft kontrollieren und im Idealfall verschwinden lassen. Er bleibt aktiv und lebensfroh, statt sich zurückzuziehen, um hypothetische Situationen der Schmerzentstehung zu vermeiden. Letzteres wäre in meinen Augen eine individuelle menschliche Tragödie und eine immense Belastung für Krankenkassen und die Wirtschaft.
Zusammenfassend lässt sich nach heutigem Kenntnisstand sagen:
Schmerz ist grundsätzlich KEIN sicherer Hinweis auf einen potenziellen Schaden im Körper.
Bildgebende Verfahren werden zu häufig und zu früh eingesetzt und können zu einem falsch-positiven Ergebnis führen.
Bei vielen Menschen entsteht aufgrund der Erlebnisse bei Experten ein Gefühl der Angst und damit ein Vermeidungsverhalten, das noch mehr Schmerzen, längere Schmerzphasen und höhere Kosten nach sich ziehen kann.
Wie sieht eine andere Herangehensweise aus?
Einen Weg, den ich immer wieder in meiner Tätigkeit gehe:
- Erfragen der Schmerzhistorie
- Erfragen des Unfallhergangs (z.B. Ablauf des Sturzes)
- Erfragen des inneren Erlebens und emotionalen Zustandes
- Erfragen des Umfeldes/ Alltagsszenarien
- Entwicklung von schmerz- und angstfreien Bewegungsmustern
- Entwicklung von Vertrauen in die Heilungsfähigkeit des eigenen Körpers
- Entwicklung eines angepassten Trainings- und Behandlungsplans, der die Heilungsphasen und die momentane Belastbarkeit berücksichtigt.
Denke daran: Es gibt keine falsche Bewegung. Es gibt aber überlastende Bewegungen oder überlastete Gewebestrukturen. Die passende Dosis von Bewegungsausmaß und Belastung entscheiden über den Heilungsprozess.